Coers' Kolumne: Der hilflose Knabe

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Datum:
Sa. 1. Juni 2019
Von:
Bernward Coers
Im Bereich „Coers‘ Kolumne“ unserer Homepage stellt unser ehemaliger Kollege Bernward Coers in völlig unsystematischer und in jeder Hinsicht beliebiger Reihenfolge literarische Texte vor, die er für wichtig, interessant und lesenswert hält. Mit seiner Präsentation möchte er auf bedeutende Dichter und ihre Texte aufmerksam machen und hofft, die eine oder andere Leseanregung zu geben. Die Texte selbst werden hier – u. a. aus urheberrechtlichen Gründen – nicht veröffentlicht; zumeist sind sie im Internet leicht zu finden. Ein Link zum Originaltext findet sich in der Regel schon am Ende der Präsentation. Eine Sammlung der vorgestellten Texte ist auf der Seite des Faches Deutsch unter ,,Weitere Informationen" -> ,,Coers' Kolumne" aufgeführt. 

Kollege Coers würde sich freuen, wenn nicht nur er allein hier seine Leseempfehlungen vorstellen würde; es wäre doch schön, wenn viele Mitglieder aus unserer Schulgemeinde diese Kolumne nutzten, um auch andere an ihren Leseerlebnissen teilhaben zu lassen. Hierzu senden Sie / sendet Ihr bitte Ihre / Eure Textvorstellung an coers@st-ursula-gk.de.

Bertolt Brecht (1898-1956): Der hilflose Knabe

 

Herr K. sprach über die Unart, erlittenes Unrecht stillschweigend in sich hineinzufressen, und erzählte folgende Geschichte:

Einen vor sich hin weinenden Jungen fragte ein Vorübergehender nach dem Grund seines Kummers. „Ich hatte zwei Groschen für das Kino beisammen“, sagte der Knabe, „da kam ein Junge und riß mir einen aus der Hand“, und er zeigte auf einen Jungen, der in einiger Entfernung zu sehen war. „Hast du denn nicht um Hilfe geschrien?“ fragte der Mann. „Doch“, sagte der Junge und schluchzte ein wenig stärker. „Hat dich niemand gehört?“ fragte ihn der Mann weiter, ihn liebevoll streichelnd. „Nein“, schluchzte der Junge. „Kannst du denn nicht lauter schreien?“ fragte der Mann. „Nein“, sagte der Junge und blickte ihn mit neuer Hoffnung an. Denn der Mann lächelte. „Dann gib auch den her“, sagte er, nahm ihm den letzten Groschen aus der Hand und ging unbekümmert weiter.

(Quelle: Bertolt Brecht, Gesammelte Werke 12, Frankfurt/M. 1967, S. 381)


Der Text „Der hilflose Knabe“ gehört zu Bertolt Brechts Sammlung kurzer Prosastücke „Geschichten vom Herrn Keuner“. Schon im ersten Satz finden wir das Thema des Textes: Es sei eine „Unart, erlittenes Unrecht stillschweigend in sich hineinzufressen“. Durch die folgende gleichnishafte Geschichte erläutert Herr K. seine Behauptung.

Wie ist nun das Verhalten des Vorübergehenden zu bewerten? Die aufkeimende Hoffnung des Knaben angesichts der liebevollen Anteilnahme des Mannes an seinem Kummer wird grausam enttäuscht: Statt der erwarteten Hilfe nimmt der Mann dem Knaben scheinbar brutal den letzten Groschen auch noch weg und treibt dessen Hilflosigkeit auf die Spitze.

Eine derart negative Beurteilung seines Handelns ist aber nur schwer mit seinem bisherigen Verhalten dem Jungen gegenüber (Anteilnahme am Kummer des Knaben, liebevolles Streicheln, Lächeln) zu vereinbaren, zumal der Mann nach dem „Raub“ des Groschens „unbekümmert“ weitergeht. Diese Haltung wird verständlich, wenn sie auf die Ausgangsthese des Herrn K. zurückbezogen wird: Der Vorübergehende begreift wie Herr K. die Reaktion des Jungen auf das erlittene Unrecht als Unart und beabsichtigt durch sein regelwidriges Handeln, den Jungen auf sein falsches Verhalten aufmerksam zu machen. So deutet auch die ruhige Art der Mimik und Gestik (er „lächelte“, er „nahm“ — im Gegensatz zu „riss“) auf die Besonnenheit seines Vorgehens. Da ihm bewusst ist, dass er dem Jungen durch sein Verhalten eine Lehre erteilt und ihm die Möglichkeit eröffnet, die Struktur der in der Situation herrschenden Abhängigkeitsverhältnisse zu durchschauen, erweist er dem Jungen einen größeren Dienst, als wenn er ihm den Groschen z.B. ersetzt hätte. Insofern erklärt sich die Unbekümmertheit seines Weitergehens aus dem Bewusstsein, pädagogisch gehandelt zu haben. Durch die Handlungsweise des Mannes erfährt der Junge, dass er sich selbst anders verhalten muss, damit seine Schwäche nicht ausgenutzt wird. Die Konsequenz, die er aus diesem Erlebnis ziehen kann, besteht in der Einsicht, dass er nicht auf Hilfe von außen hoffen darf, sondern dass es auf ihn selbst, auf seine eigenen Fähigkeiten ankommt, wenn er der Gefahr entgehen will, Unrecht zu erleiden.

Die Handlungsweise des Mannes zielt also auf einen Lernprozess, der zu einer Verhaltensänderung des Jungen, d.h. zu einer veränderten Reaktion auf erlittenes Unrecht führt. Durch seine Frage: „Kannst du denn nicht lauter schreien?“ hat ihm der Mann bereits den Weg für die notwendige Verhaltensänderung eröffnet: Anstatt das Unrecht stillschweigend zu erdulden, hätte er lauter schreien, d.h. sich gegen das erlittene Unrecht zur Wehr setzen müssen. Denn wer sich nicht wehrt, wird das Opfer weiteren Unrechts. Der Schwache, so lehrt es die Geschichte, muss also lernen, sich zu wehren, so zu schreien, dass sein Schreien gehört und das Unrecht offenbar wird. Der Verweis auf die ihm zu diesem Zeitpunkt unbekannten Fähigkeiten und Möglichkeiten („lauter schreien“) bewirkt den notwendigen Lernprozess, durch den der Lernende selbst verändert wird. Der Text verdeutlicht, dass der Junge zur falschen Zeit und in einer falschen Weise das erlittene Unrecht artikuliert. Sein Weinen als unangemessene Reaktion auf den Verlust des ersten Groschens bleibt wirkungslos und wird sogar noch bestraft, da er sich durch sein stilles Leiden als hilflos und somit als angreifbar erweist.

Nach der Meinung des Herrn K. muss also der Schwache die Unart des hilflosen Nachgebens ablegen und stattdessen sich sofort entschlossen gegen Unrecht wehren, damit kein weiteres Unrecht geschieht. Dies ist die Konsequenz, die der Junge aus dem Verhalten des Mannes zu ziehen hat. Insofern erweist sich der Mann durch sein Verhalten als Lehrer des Jungen, indem er ihm die Möglichkeit der Einsicht in sein falsches Verhalten vermittelt.

Die Absolutheit, mit der Herr K. seine durch die Parabel vom hilflosen Knaben verdeutlichte Lehre vertritt, fordert dazu auf, sie auf ihre Berechtigung und Gültigkeit hin zu überprüfen. Da die Absicht des Keunerschen Denkens und Lehrens gerade darin besteht, das Gegebene in Frage zu stellen, muss sich auch die von ihm vertretene Lehre selbst wieder in Frage stellen lassen, damit der von Keuner/Brecht beabsichtigte Lernprozess erzielt wird:

Eine Gegenposition zur These des Herrn K. ergibt sich aus der von der christlichen Moral vertretenen Lehre des demütigen Ertragens irdischen Unrechts (vgl. z.B. Matthäus-Evangelium 5,39 und 26,52), so dass von diesem Standpunkt aus die Aussage des Brecht-Textes grundsätzlich in Frage gestellt werden muss. Insofern bietet die gegebene Lehre keine absolute situationsunabhängige Handlungsanweisung; sondern indem der Text zwei extreme Reaktionsmöglichkeiten auf erlittenes Unrecht gegenüberstellt (das Leiden des Jungen und die Forderung des Herrn K.), inspiriert er den Leser, sein eigenes Verhalten zu reflektieren, um sich so in vergleichbaren Situationen bewusster, d.h. den Erfordernissen der jeweiligen Situation entsprechend zu verhalten.

Wie bei allen Brecht-Texten ist auch bei dieser kurzen Parabel-Geschichte die marxistisch-sozialistische Weltanschauung des Autors zu berücksichtigen: So kann man davon ausgehen, dass dessen pädagogisches Engagement sich wohl weniger auf ein hilfloses, bestohlenes Knäblein auf der Straße richtet als vielmehr auf alle Ausgebeuteten und Unterdrückten, die „erlittenes Unrecht“ lediglich bejammern und auf fremde Hilfe hoffen, statt ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, indem sie sich gegen ihre Ausbeuter zur Wehr setzen. Insofern ist dieser kurze Text auch und vor allem als Aufforderung und Anleitung zum Klassenkampf zu verstehen, damit die „Verdammten dieser Erde“ („Die Internationale“) fähig werden, das kapitalistische Gesellschafts- und Wirtschaftssystem zur Durchsetzung ihrer Interessen zu überwinden.

Bernward Coers